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Titel
Der Mythos vom starken Führer. Politische Führung im 20. und 21. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer


Autor(en)
Brown, Archie
Erschienen
Anzahl Seiten
473 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Depkat, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Regensburg

Politische Führung ist ein klassisches Thema der internationalen Politikwissenschaft, das durch die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie im Zeichen rechtpopulistischer Herausforderungen und der sich erkennbar verstärkenden diffusen Sehnsucht nach „starken Führern“ neue Relevanz gewonnen hat. Zwar ist die hier angezeigte monumentale Studie des britischen Gelehrten Archie Brown, bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2005 Professor für Politikwissenschaft an der Oxford University und Fellow des dortigen St. Anthony’s College, erkennbar durch die aktuellen Entwicklungen geprägt, aber keinesfalls durch sie allein motiviert. Das 2014 erstmals auf Englisch veröffentlichte Buch, nun in gekürzter deutscher Übersetzung mit neuem Vorwort erschienen, ist kein momentgeborener Einwurf in die tagespolitischen Debatten, sondern eine theoriegeleitete und typenbildende Erörterung von Stilen, Formen und Ergebnissen politischer Führung in den Kontexten des 20. und 21. Jahrhunderts. Die anregenden Thesen zu „guter“ und „schlechter“ politischer Führung werden durch eine beeindruckende Vielfalt historischer Fallbeispiele konkretisiert.

„Gute“ Führung ist für Brown ein politisches Entscheidungshandeln, das unter sachlicher Prüfung aller Optionen und kühl kalkulierender Abwägung vieler Standpunkte politische Entscheidungen zugunsten des Gemeinwohls im Sinne von Nachhaltigkeit trifft. Gleichzeitig vermeidet „gute“ Führung katastrophale und in ihren Wirkungen zerstörerische Fehlentscheidungen (wie beispielsweise den amerikanischen Angriff auf den Irak im Jahr 2003).

Dabei zeigt sich Brown von der Notwendigkeit stabiler, ja sogar starker Führung überzeugt, sieht diese aber allein in kollektiver Führung verwirklicht. Eine rechtstaatlich kontrollierte, sich dem Parlament und der Gesellschaft verantwortlich zeigende Exekutive ist für ihn notwendig, legitim und funktional. Demgegenüber erscheint die zu starke Machtkonzentration auf einen Einzelnen im besten Fall bedenklich, im schlimmsten Fall richtiggehend gefährlich, weil die Wahrscheinlichkeit „schlechter“ Entscheidungen steigt. „Maßlose persönliche Macht“ und daran gekoppelte Vorstellungen vom „starken Führer“ leisteten nur „dem Größenwahn eines Regierungschefs Vorschub“, hätten „Unterwürfigkeit und Selbstzensur der Kabinettskollegen“ zur Folge und förderten „das Gruppendenken“, schreibt Brown und fragt: „Warum sollten wir uns einen Regierungschef wünschen, der sein Kabinett vollkommen beherrscht oder es nach Belieben umgehen kann, so dass die Minister nicht als Kollegen mit ihm zusammenarbeiten, sondern bloße Gefolgsleute sind, denen die Entlassung droht, wenn sie das Urteil des Kabinettschefs in Frage stellen?“ (S. 27)

So klar der Begriff der Führung aus Browns Überlegungen hervorgeht, so schwammig bleibt, was genau mit „Mythos“ gemeint sein soll, wird doch der Mythos-Begriff, der bereits in der englischen Originalausgabe prominent im Titel figurierte („The Myth of the Strong Leader“), nicht weiter definiert oder konzeptionell entwickelt. Deutlich wird immerhin, dass Brown mit „Mythos“ in erster Linie weithin geteilte Fehleinschätzungen, falsche Erwartungen und Illusionen meint, die sich mit der Vorstellung vom „starken Führer“ verbinden, und zwar sowohl bei den handelnden Politikern als auch in der Gesellschaft, soweit deren Einstellungen durch Meinungsumfragen fassbar sind.

Seine Überlegungen zur politischen Führung, die gleichermaßen politikwissenschaftlich-theoriebildend wie historisch-deskriptiv sind, entfaltet Brown in acht Sachkapiteln, die ein denkbar breites Panorama von Führungspersönlichkeiten aus den USA, Europa und Asien abschreiten.

Kapitel 1 reflektiert die Vorstellungen und Ideale von Führung in Abhängigkeit sowohl von politischen Systemen und Regierungsformen als auch von politisch-kulturellen, psychologischen und institutionellen Faktoren, um zu demonstrieren, in welchem Maße Führung kontextgebunden ist. Kapitel 2 dekonstruiert einige zentrale Mythen, die sich mit der Vorstellung von „starken Führern“ vor allem in Demokratien verbinden. Es zeigt, dass der persönliche Einfluss einzelner Politiker auf Wahlergebnisse und politische Entscheidungen in der Regel viel kleiner ist als angenommen.

Die Kapitel 3 bis 6 erörtern jeweils einen Typus von politischer Führung. Kapitel 3 untersucht unter anderem am Beispiel von Franklin D. Roosevelt, Lyndon B. Johnson, Margaret Thatcher, Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl den Typus der „neudefinierenden Führung“, also eine Form politischer Führung, die geltende Annahmen in Frage stellt, das politisch Mögliche neu definiert und umwälzende politische Veränderungen herbeiführt.

In Kapitel 4 diskutiert Brown den Typus der „transformativen Führung“. Als „transformative Führer“ bezeichnet er Politiker, die entscheidend dazu beitragen, das wirtschaftliche oder politische System ihres Landes zu verändern, oder die eine wichtige Rolle bei der Veränderung des internationalen Systems spielen. Dies wird am Beispiel von Charles de Gaulle, Adolfo Suárez, Michael Gorbatschow, Deng Xiaoping und Nelson Mandela dargestellt.

Kapitel 5 betrachtet die chinesische Revolution von 1911/1912, die kommunistischen Revolutionen in Europa und Asien, die iranische Revolution sowie die arabischen Revolutionen des 21. Jahrhunderts, um Aspekte „revolutionärer Führung“ zu erörtern. Zwar bringen auch Revolutionen transformative Elemente hervor, doch ist Revolution eine andere Form systemischen Wandels, die, so Brown in seinen anregenden und weiterführenden Überlegungen zum Begriff der Revolution, nicht ohne Gewalt auskommt und in ihren Ergebnissen kaum von den politischen Akteuren zu kontrollieren ist. Sie unterscheidet sich damit vom friedvollen, kontrollierten Systemwandel transformativer Führung, was sich nicht zuletzt darin manifestiert, dass es auch, wie Brown am Beispiel der arabischen Revolutionen zeigt, „führerlose Revolutionen“ geben kann.

Kapitel 6 erläutert am Beispiel kommunistischer und faschistischer Regime in Europa und Asien das Problem „totalitärer und autoritärer Führung“. Hitler, Mussolini, Stalin und Mao werden hier kaum überraschend als Fallstudien genommen, um die Gefahren, die sich mit der starken Machtkonzentration auf einen Einzelnen verbinden, zu erörtern und den Mythos vom „starken Führer“ zu dekonstruieren. Viel interessanter sind da Browns Überlegungen zur Möglichkeit von kollektiver Führung in totalitären Regimen. So sieht er mit der Machtübernahme Leonid Breschnews eine Phase der durchaus erfolgreichen kollektiven Führung in der Sowjetunion beginnen. Osteuropa-Historiker/innen dürften dies freilich differenzierter einschätzen.1

Kapitel 7 untersucht die Konsequenzen des Mythos vom „starken Führer“ für das außenpolitische Entscheidungshandeln. Im Mittelpunkt stehen folgenreiche Fehlentscheidungen, die aus der Selbstherrlichkeit politischer Führer erwuchsen, die dem „Hybrissyndrom“ (S. 349) gefährlicher Selbsttäuschung erlagen. Als besonders gravierender Fall wird in diesem Zusammenhang Tony Blairs im Alleingang getroffene Entscheidung für die Unterstützung der USA im Irakkrieg erörtert. Ausführlich diskutiert wird aber auch Neville Chamberlains Politik des Münchner Abkommens (von der sich Blair zu Beginn des 21. Jahrhunderts dezidiert abheben wollte).

Kapitel 8 geht in einer Art essayistischer Schlussreflexion der Frage nach, welche Art von Führung wünschenswert sei, und zieht dabei die zuvor ausgebreiteten Überlegungen noch einmal thesenhaft zusammen. Die Vorstellung von „starken Führern“ und deren Einfluss sei gerade in Demokratien vielfach eine Illusion, weil die Macht des Einzelnen meist gar nicht so weit reiche, wie der Habitus des „starken Mannes“ suggeriert. Wirksamer seien Formen der kollektiven Führung. Gestützt auf die Definition des Politikwissenschaftlers Joseph Nye sieht auch Brown einen effizienten und erfolgreichen politischen Führer als eine Person an, „die einer Gruppe hilft, gemeinsame Ziele zu entwickeln und zu erreichen“ (S. 402). Dies gelte besonders in Demokratien, wo die politische Willensbildung von den Parteien ausgehen solle, denen sich auch der politische Führer unterzuordnen habe. Er solle seiner Partei dabei helfen, die Macht zu erringen, und dann die von der Partei beschlossene Politik umsetzen. Vor dem Hintergrund dieser Analyse erscheint die gegenwärtig so virulente Sehnsucht nach „starken Führern“ in liberalen Demokratien als Symptom der Krise politischer Systeme, in denen die Parteiführungen den Einfluss und das Mitspracherecht der Mitglieder weitgehend marginalisiert haben (vgl. S. 405).

Insgesamt besticht Archie Browns Studie durch ihre gelungene Mischung aus theoretischer Reflexion und historischer Konkretisierung in globaler Perspektive. Zwar gehen die historischen Ausführungen kaum einmal über das hinlänglich Bekannte und Erwartbare hinaus und mögen in vielen Details auch angreifbar sein. Zudem kann man sich darüber streiten, ob die typologische Zuordnung immer überzeugt und ob nicht einzelne Politiker im Zusammenhang mit der Typenbildung auch noch hätten erörtert werden müssen – so habe ich zum Beispiel Ronald Reagan, der anders als Lyndon B. Johnson ein ganzes politisches Zeitalter geprägt hat, in der Liste „neudefinierender“ Führer vermisst. Dennoch: Die begriffsbildende panoramatische Zusammenschau von Führungspersönlichkeiten, Regierungsstilen und Entscheidungskontexten des 20./21. Jahrhunderts, die Brown hier vorlegt, ist beeindruckend. Die Hauptthesen des Buches werden die Anhänger liberaler Demokratie und pluralistischer Gesellschaftsordnungen kaum zu Widerspruch reizen, bündeln sie doch Grundideen und Prinzipien politischer Führung, die bis vor kurzem als „conventional wisdom“ weithin akzeptiert und unterhinterfragt gültig waren. Angesichts der merkwürdigen Orientierungslosigkeit demokratischer Kräfte in der gegenwärtigen Krise liberaler Ordnungen ist das Buch deshalb vor allem als Mittel der politischen Bildung und demokratischen Selbstvergewisserung lesenswert. Selten war eine gelehrte Synthese, die die politikwissenschaftliche Forschung zum Problem der Führung derart konzise zusammenträgt, politisch so zeitgemäß.

Anmerkung:
1 Siehe jüngst Susanne Schattenberg, Leonid Breschnew. Staatsmann und Schauspieler im Schatten Stalins. Eine Biographie, Köln 2017; rezensiert von Gerhard Simon, in: H-Soz-Kult, 05.03.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-28599 (11.09.2018).